Ins Innere
Ins Innere.
Ich dachte, ich hätte einen sehr mutigen Schritt gewagt.
Ich habe wirklich geglaubt, dass es klappen würde.
Ich wollte mich öffnen.
Wollte dich hereinlassen.
Und dir alles Mögliche in mir zeigen.
Aber ich habe nicht gedacht, dass ich jetzt auf einmal mit einer neuen Gegnerin zu tun habe.
Und diese sitzt eben auch in mir. Hält sich gut versteckt und ist nicht greifbar.
Hinter eine Mauer aus Angst hockt sie. Unsichtbar.
Es ist die Traurigkeit. Sie ist leise. Und sie macht es fast unmöglich, einen Ton herauszubekommen. Sie erstickt die Worte. Bringt mich zum Schweigen.
Dabei gäbe es so viele Sachen, die ich sagen möchte.
Aber jetzt werden sie in mein Innerstes verfrachtet. Dahin, wo niemand sie hören kann. Nicht einmal ich selber.
Meine Hoffnungen können nicht heraus, können nicht leben und wirklich werden. Stattdessen müssen sie einen weiten Umweg nehmen. Durch das Dunkle. Und es ist völlig offen, ob sie jemals wieder das Tageslicht sehen werden. Sie kommen an der Traurigkeit nicht vorbei. Diese steht im Weg. Vielleicht stehe ich mir selber im Weg. Aber bei ihr geht es gerade nicht weiter. Also winke ich der Hoffnung hinterher, wie sie sich abwendet und in der Tiefe verschwindet.
Was will diese Traurigkeit eigentlich? Wenn sie so traurig ist, wenn sie unbedingt so sein will, warum verzieht sie sich nicht in die hintersten Winkel und lässt den Rest von uns unbehelligt? Es gäbe eine Menge von Dingen, die passieren könnten, wenn der Weg nach Draußen frei wäre. So viele Träume, Ideen, Leidenschaften und Möglichkeiten. Aber gerade kommt niemand vorbei. An der Traurigkeit.
Vielleicht will diese Traurigkeit ebenfalls einfach nur raus. Wie alles andere in mir auch. Nur lasse ich das nicht zu. Ich bewache mein Inneres sehr gut. Keine Spur von Traurigkeit soll herauskommen. Das kann ich nicht zulassen. Denn ansonsten weiß ich nicht, was passiert. Ich habe Angst, dass ich die Kontrolle verliere. Die Fassung. Was, wenn ich die Traurigkeit nicht mehr einfangen kann? Was, wenn sie freigelassen wird und dann in Momenten die Kontrolle übernimmt, in denen sie alles kaputt machen kann?
Diese Traurigkeit ist ein Problem. Ich weiß nicht so recht, wie ich damit umgehen kann. Sie ist ja da. Aber sie sollte es nicht sein. Ich möchte nicht, dass sie Teil meines Inneren ist. Sie soll verschwinden.
Vielleicht kein Wunder, dass sie sich versteckt hält. Nicht greifbar ist. Ich keinen Kontakt zu ihr habe. Ich habe sie ja eingesperrt. Ihr den Ausgang versperrt. Der Eingang zu meinem Inneren ist sicher. Da kommt nichts durch. Niemand.
Und dann kamst du.
Du wolltest wissen, wie es in mir aussieht. Wie es mir geht. Was es da zu sehen gibt. Und ich dachte, was eine tolle Idee. Gerne wollte ich dir alles Mögliche zeigen. Es gibt viel zu sehen. Viel zu erleben und viel anzustellen.
Aber der Eingang zu meinem Inneren ist sicher. Da kommt nichts durch. Niemand. Diese Mauer ist doch wichtig. Ohne sie kann ich nicht funktionieren. Ohne sie läuft alles aus dem Ruder. Ich kann dich da nicht reinlassen, ohne diese Mauer abzubauen. Und dann bin ich mir nicht mehr sicher.
Was wird jetzt passieren?
Entsteht dann nicht ein Chaos?
Wenn du mich so siehst.
Wirst du dich nicht abwenden?
Wirst du nicht denken,
was eine Enttäuschung?
Wie könntest du dich da wohl fühlen?
Ich wollte dich gerne einladen. Aber in ein tolles Zuhause. Nicht in dieses Desaster.
Was nun?
Vielleicht sollte ich mich auf die Suche nach der Traurigkeit machen.
Sie fangen. Festhalten. In den Würgegriff nehmen. Und sie dann für immer zum Schweigen bringen. Man soll ja nie unbewaffnet in sich hinein gehen.
Aber so richtig glaube ich nicht an diese Lösung.
Eigentlich will ich das nicht.
Ich will keine Gewalt in meinem Inneren.
Ich bin müde vom Versteckspiel.
Vom ständigen Bewachen.
Vom Mauern.
Vielleicht ist das beste, du siehst dir das einfach selber an.
Lerne kennen, was in mir ist.
Ich habe keine Lust mehr, mein Inneres vor mir selbst und allen sonst abzuriegeln.
Und dann zuzusehen, wie alles, was mir lieb ist, tief in mir verschwindet.
Ich weiß noch nicht, wie das alles ausgehen wird. Und ob das klappt. Und ob das ein mutiger Schritt ist. Oder ein unfassbar dummer. Aber sieh selbst. Komm mal hinter die Mauer.
Ich dachte mir, dass sei ein mutiger Schritt.
Mich zu öffnen.
Und dich hinein zu lassen.
Nadja Gail
26. Januar 2020 @ 18:28
Wow… was für ein berührender Text, Jason. Er hat mich zu Tränen gerührt… mir aus dem Herzen gesprochen.
Hast du ihn geschrieben oder ist er auch von Dorothee Sölle?
Jason
26. Januar 2020 @ 18:30
Oh danke! Das ist tatsächlich einer von mir…
Nadja Gail
26. Januar 2020 @ 18:37
Unglaublich. Er ist wunderschön und unfassbar traurig und für mich sehr greifbar und authentisch. Wie gut, dass du darüber schreiben kannst… über diese Gefühle.
Jason
26. Januar 2020 @ 18:38
Das letzte Jahr war recht heftig. Schreiben hat mir sehr geholfen.