Dorothee Sölle – Warum ich Christin bin
Dorothee Sölle ist für mich eine der Theologinnen, zu der ich immer wieder zurückkomme. Nicht nur ihre Gebete und Gedichte, auch ihre theologischen Texte sprechen sehr viel in mir an. Sehr bewegend finde ich ihre Begründung dafür, dass sie sich Christin nennen konnte:
“…Christ bin ich, wenn ich glaube, dass alles möglich ist. Blinde lernen sehen, alte Nazis hören auf zu verdrängen, Technokraten hören den Machtlosen zu. Die Lahmen gehen, die Tauben hören, die Armen hören die Nachricht von der Befreiung. Vielleicht muss man an dieser Stelle den individualistischen Ton des Spirituals verlassen und aus dem lch ins Wir, aus dem Voluntarismus in die Erfahrungen der Geschichte übergehen. Christ bin ich, weil ich glaube, dass das, was allen versprochen war, möglich ist.
Jesus von Nazareth hat mit seinem Leben etwas versucht, was ich auch will, an dem mir tatsächlich “alles” liegt. Da der Ausgang seines Experiments ungewiss ist, kommt es darauf an, dass möglichst viele, möglichst alle daran mitarbeiten. Mit-Wunder-Tun, Mit-Leiden, Mit-Erzählen, Mit-Teilen. Er ist mein Bruder, der, etwas älter als ich, mir immer schon einen Tod voraus ist. Der, etwas jünger als ich, verrückter, mir immer schon ein Wunder voraus ist.
Was tut er mir? Ich lerne von ihm. Wenn man nicht mehr lernt, ist man tot, und von ihm lerne ich am meisten. Er spricht von meinem Leben so, wie ich will, dass von ihm gesprochen wird, ohne jede Verachtung. Er lässt es nicht zu, dass nur ein einziger Tag meines Lebens gering geachtet, sinnlos, ohne das große Experiment sei. Ich lerne von ihm, allen Zynismus zu überwinden. Diese Lektion finde ich heute am schwersten – es gibt überzeugende Gründe, Menschen zu verachten, es gibt großartige Gründe, mich selber zu verachten. Es gibt eine Versuchung, das Leben nur teilweise, nur ein Stück weit, nur unter Umständen zu bejahen. Er beschämt mich – meine endliche, ungeduldige, teilweise, oberflächliche Bejahung. Er lehrt mich ein unendliches, revolutionäres, nichts und niemanden auslassendes Ja…”
In: W. Jens (Hrsg): Warum ich Christ bin, München 1982, S.348