Ins Weite
Ich wurde in die Enge geboren – in eine religiöse Gruppe geboren, die sektenähnliche Züge hatte.
Sehr schnell habe ich dort gelernt, dass es unsere Gemeinde gibt und die Welt da draußen. Drinnen die Guten, draußen das Böse.
Ich lernte, dass es Christinnen und Christen gibt, die sich aber nur so nennen. Aber sie gehörten nicht zu uns. Sie gehörten zu denen da draußen. Ich lernte, dass ich in ihren Gottesdiensten eine Form von spiritueller Verunreinigung in mich aufnehmen würde, mit der ich die Heimatgemeinde verseuchen konnte. Das würde dann passieren, wenn ich an einem Ritual teilnehmen würde, das Abendmahl genannt wird.
Man hatte sogar ein System installiert, bei dem alle Gäste unseres Gottesdienstes eine schriftliche Bestätigung benötigte, um an unserem Abendmahl teilzunehmen. Man wollte sicherstellen, dass nur nachweislich Reine sich der Heimatgemeinde zugesellen und an diesem Ritual teilnehmen würden.
Was bewegt Menschen, so zu glauben? Was ist die Triebkraft dahinter? Ich habe dort Angst verspürt. Sie kam nicht immer offen zum Vorschein. Aber es gab eine gewisse Atmosphäre, die bedrohlich wirkte.
Man hat mir erklärt, dass Verunreinigung bestraft würde. Ganz sicher würde diese Verunreinigung durch Ausschluss aus der Gemeinschaft geahndet werden. Das hatte ich mehrfach erlebt.
Und vielleicht durch Krankheiten. Oder durch Unglück. Verkehrsunfälle. Schicksalsschläge. Oder dadurch, dass man im Leben all das nicht erfahren würde, was man sich im Tiefsten wünscht.
Vielleicht.
Dann kam eines Tages ein Freund auf die Idee, einen Gottesdienst in der Nachbarstadt zu besuchen. Mit Abendmahl. Er war bereits mehrfach dort gewesen und fand es cool. Ich konnte nicht glauben, dass er dort am Abendmahl teilgenommen hatte. Wenn das herauskommen würde…
Ja, was eigentlich dann?
Es würde Gespräche geben. Wichtige Gemeindevorsteher würden enttäuscht sein. Würden vielleicht ein Exempel statuieren. Würden warnende Worte mit erhobenem Finger und vielleicht hochrotem Kopf rausposaunen. Vielleicht würde man eine tiefe Buße fordern. Oder man würde wirklich den Ausschluss vollziehen.
Vielleicht. Vielleicht würde das passieren.
Aber Schicksalsschläge?
Unglück?
Krankheit?
Verkehrsunfälle?
Ja, solche Dinge passieren auch im Leben. Aber doch nicht deswegen, weil jemand einen anderen Gottesdienst besucht und dort einen Schluck an billigem Wein nippt und auf einem Stück Weißbrot kaut.
Dieser Gedanke poppte spontan in mir auf. Und mit einem Mal hatte die gesamte Drohkulisse ihre Kraft verloren. Man könnte mich aus der gewohnten Umgebung herauswerfen. Ich könnte Freunde und Verwandte verlieren. Ablehnung und Vorwürfe könnten mich treffen.
Aber deswegen würde sich das Universum nicht gegen mich verschwören. Ich erkannte, dass meine Entscheidungen mein Leben prägen würden. Und die Konsequenzen dieser Entscheidungen. Aber was auch immer mir auf dem Weg entgegen kommen würde, es würde nicht der Boomerang dafür sein, dass ich mich an Orte begeben würde, die mir gut tun. Selbst wenn sie von der Gemeinde als verbotene Orte angesehen würden. Und wenn ich Menschen in mein Leben lasse, die Lebensenergie versprühen, aber eine Meinung vertreten, die von der Gemeinde missbilligt würde – wovor sollte ich dann Angst haben? Oder wenn ich Erfahrungen mache, die mein Leben bereichern, aber dem widersprachen was meine Gemeinde lehrte – was sollte mich da in Angst versetzen?
Also ging ich.
Und dann?
Kamen Schicksalsschläge?
Unglück?
Krankheit?
Verkehrsunfälle?
Aber na klar. Denn so ist das Leben. So manche Dinge waren sehr schmerzhaft. Einiges ging schief. Manche Stunden, Tage und Jahre waren sehr düster. Anderes dafür nicht. Sehr vieles lief unglaublich gut. Weil das Leben so ist.
Ich habe mich oft gefragt, was denn gewesen wäre, wenn ich damals nicht gegangen wäre. Vielleicht wäre mein Leben gar nicht so sehr anders verlaufen. Zumindest nicht in den äußeren Dingen. Aber vielleicht wäre eine innere Haltung zum Leben nicht so ohne weiteres möglich gewesen.
Etwas in mir wollte an diesem Sonntag in diesen verbotenen Gottesdienst. Denn es roch nach Freiheit. Nach etwas Neuem und Schönem. Ich hatte da eine Ahnung. Die Ahnung, dass das Universum sich in einer Weise auf meine Seite geschlagen hatte, um sich in meinem Leben einzumischen und eine gute Geschichte zu ermöglichen. Was auch immer mit Universum gemeint sein kann. Was auch immer dahinter stecken mag. Ich weiß das oft gar nicht so genau. Und doch ist da diese Ahnung.
Vielleicht ist es so, dass das Universum mir auf eine Weise wohlgesonnen ist. Und wenn nicht, dann hilft es vielleicht trotzdem, davon auszugehen. In meinem Leben hat es immer wieder Momente gegeben, in denen ich wahrgenommen habe, dass die Dinge sich zum Guten neigen. Als wollte das Universum mir einen Weg aufzeigen. Oder mich wieder aufpäppeln, wenn die Dinge nicht so gut liefen. Wie ein Flüstern. Oder wie eine Atmosphäre, die nicht klar ausgesprochen ist. Aber dennoch entfaltet sie immer wieder eine erstaunliche Wirkung. Und das bewegt mich. Es zieht mich nach vorne.
Also gehe ich.
Ins Weite.