Warum bin ich Christ? Gastbeitrag von Chris Schmieding
Warum bin ich Christ?
Eine Frage, die mich in den letzten Jahren tatsächlich stark begleitet hat. Auch eine Frage, die ich nicht immer wirklich zu beantworten wusste. Warum nenn ich mich noch Christ?
Wie viele andere evangelikal-, charismatisch geprägte Christen, bin auch ich aufgewachsen mit der, in vielem ja auch sehr schönen, Idee eines Gottes, der sich kümmert. Eines Gottes der sich sorgt. Eines Gottes, der sich persönlich für mich interessiert. Mit einem Erwachsen werden jedoch emanzipiert man sich mit der Zeit immer stärker von einer solchen Idee. Einerseits braucht man vielleicht immer weniger diese transzendente Vaterfigur, weil man in seiner Identitätsfindung und seinem Leben längst mehr Ruhe gefunden hat, andererseits findet man durch diese Ruhe auch stärker zu einer Autonomie, die einen unabhängiger macht von solcherlei Externalisierungen. Was man früher vielleicht als Dialog mit einem persönlichen Gott realisierte, von dem man sich Annahme und Bestätigung wünschte, versteht man heute etwas aufgeklärter als einen inneren Dialog. Es sind nicht mehr Gott und Glaube, die mich bestätigen und legitimieren, sondern meine eigenen Entscheidungen und Reflexionen, die mir auch mein Recht aufzeigen, so sein zu können, wie ich mich auch wohl und bei mir angekommen fühle, mir aber auch Verantwortung zumuten darin, wie ich mit anderen Menschen umgehe.
Diese Abwendung von persönlichen Fragen um Identitätsfindung und Selbstbestätigung führt in vielen Fällen aber eben auch dazu, dass man sich die Christenheit einmal genauer anschaut. Denn so wird das Äußere wichtiger als das Innere. Plötzlich sind es eben nicht mehr persönliche Motive, die mich am Glauben halten, sondern vielmehr Fragen um Werte, um Perspektiven, um Haltungen, oft eben auch politischer Natur. So hat letztlich viel weniger meine gewachsene Autonomie, meine Emanzipation, mein Christsein in Frage gestellt, als vielmehr das, wofür Christen heute oftmals stehen.
Da ist beispielsweise ein amerikanischer Evangelikalismus, der mehrheitlich selbstgerechte Populisten wie Trump oder Bolsonaro unterstützt. Da sind gemeindlich organisierte Christen, die von Freiheit und Annahme sprechen, mit ihrer Religiosität und ihren Strukturen in Wirklichkeit aber Neurosen und Schuldgefühle fördern. Da sind charismatische Prediger, die sich als von Gott inspiriert darstellen, tatsächlich aber nur ihren Narzissmus ausleben und Millionen Dollar scheffeln, indem sie andere Menschen mit religiösen Motiven manipulieren. Und da sind Menschen, die für den Schutz des ungeborenen Lebens auf die Straße gehen, sich in ihrer Politik und ihrem Wirtschaften aber einen Scheiß für die Realität von Millionen Hungernden und Flüchtenden weltweit interessieren. Die lieber Zäune bauen, um ihren Wohlstand zu schützen, oder dreckige Deals mit Despoten abschließen, um das Elend dieser Welt aus dem eigenen Vorgarten heraus zu halten.
Bei so viel Selbstbetrug und Doppelmoral – wer will sich da noch Christ nennen? Schaut man sich Kirchenaustritte und die allgemeine Resignation hinsichtlich des christlichen Glaubens in den westlichen Gesellschaften an, lassen sich meist eben genau solche moralischen Inkongruenzen als Beweggrund heraus arbeiten. Wenn eine Moral, die sich transzendent begründet, solche Inkongruenzen und eine solche Korrumpierbarkeit aufweist, welchen Mehrwert hat sie dann? Warum dann nicht einfach auf eine säkulare Ethik um Begriffe wie Menschenwürde, Gerechtigkeit und Freiheit setzen, die sich in Vernunft und Empathie begründet und so keines Gottes bedarf? Sicher, auch eine humanistische Ethik ist nicht fehlerresistent, sie kann sich aber zumindest schlüssig, kongruent und kategorisch argumentieren und erweist sich als gesellschaftliches Korrektiv so deutlich tragfähiger. Wozu brauchen wir da noch den Glauben an höhere Werte, wie sie vom Christentum postuliert werden?
Statt eine Frage zu stellen, setzen viele hier bereits den Punkt. Und das ist sicherlich legitim und auch der Weg, den immer mehr Menschen heute gehen. Waren unsere Eltern vielleicht noch fromme Lutheraner oder Pietisten, sind wir heute vielleicht schon post-evangelikal oder liberal. Unsere Kinder hingegen sind dann meist bereits Agnostiker. Statistisch gesehen ist das die typische Bewegung.
Der Grund dafür, dass ich diesen Absatz dennoch nicht so einfach schließen möchte ist der, dass es gerade in Religion, auch im Christentum, immer wieder Momente, Marker und Personen gab, die hinsichtlich Werte wie der Nächstenliebe in ganz besonderer Weise über sich hinaus gewachsen sind. Menschen, die vielleicht bewusst in sehr einfachen Verhältnissen lebten um sich Anderen zuwenden zu können. Die tatsächlich ihr letztes Hemd hergegeben haben, wenn jemand anderer fror. Die einen besonderen Antrieb hatten Gutes in die Welt zu bringen, weit über das hinaus, zu was wir aus Selbstgesetzgebung, Mitgefühl oder der christlichen Sozialethik heraus imstande wären.
Auch eine moderne Geisteswissenschaft hat längst Anfragen an den hohen Idealismus des Humanismus gestellt. Wie wenig unsere Lebenswelt dann letztlich doch von Rationalität und Vernunft geprägt ist, und dass unsere Empathie meist bereits an den Grenzen unseres Dorfes, unserer Städte, unserer Milieus, unseres Staates endet – Hier hat mehr Ehrlichkeit in der Reflexion auch wieder zu mehr Demut in unserer Selbstbetrachtung geführt. Auch die Frage nach dem Guten Willen, die auch ein Immanuel Kant nicht so richtig zu beantworten wusste, haben wir uns so nochmals deutlich selbstkritischer stellen müssen.
Was mich am Glauben heute fasziniert, so wie ich ihn im Christentum kennen gelernt habe, ist die Idee, dass wir mit Gottes Interesse eine eigenständige Aktivität hinter diesem guten Willen annehmen. Das der Wille zum Guten sich nicht nur aus dem menschlichen Vermögen herleitet, sondern da etwas ist, dass uns zum Guten lockt. Etwas, das uns immer wieder ermutigt dran zu bleiben, indem es auf die Schönheit des Guten hinweist.
In den Jesus Worten findet man häufiger Formulierungen die davon sprechen, er tue was er den Vater tun sehe. Der Christus der biblischen Erzählungen hat ein Vorbild. Er hat etwas das ihn anzieht, das ihn fasziniert und zu seinem Handeln befähigt. Ähnlich geht es mir heute, wenn ich die Erzählungen von Jesus lese. Mich fasziniert die Konsequenz in der die Evangelien von Nächstenliebe sprechen. Ich erleben in diesen Motiven eine Resonanz, die über mich, meine Bedürfnisse, auch mein Vermögen, weit hinausgeht. Etwas, das mich anzieht, das eine Schönheit ausstrahlt, nach der sich in mir etwas sehnt.
Diese Idee davon, dass hinter dem Guten ein Interesse steht, dem ich begegnen kann, das ist mir heute zum wesentlichen Glaubensmotiv geworden. Wenn ich Gott und Glauben heute suche, dann halte ich Ausschau nach Menschen und Orten, die in besonderer Weise Gutes geben und hervorbringen. Ob dies nun Menschen sind, die ihre Freizeit in säkularen Obdachlosenküchen oder der Seenotrettung verschenken. Ob es das christliche Hilfsprojekt ist, das mit ehrenamtlichen Medizinern für ärztliche Versorgung in Regionen mit schlechter Infrastruktur sorgt, oder aber der muslimische Imam, der sich in seinem Viertel um benachteiligte Menschen kümmert.
Für mich ist Glaube heute keine Frage der Religion mehr, sondern eine Frage nach der treibenden Kraft. Was ist es, das uns antreibt? Wenn es die Sehnsucht nach dem Guten ist, dann finde ich dort Glauben, dann finde ich dort Schönheit. Dann finde ich dort etwas, das mir heilig ist und was ich gerne Gott nennen möchte.
Warum bin ich noch Christ?
Ich glaube, dass Gott auch im Christentum seinen Platz haben kann. Ich glaube, dass gerade die Erzählungen unserer Religionsgemeinschaft diesen Willen zum Guten in besonderer Weise und Ehrlichkeit einfangen und beschreiben können. Ich glaube, dass sich dieses Locken Gottes, dieses Interesse Gottes an den Menschen im christlichen Glauben finden lassen kann.
Solange es Christen gibt, die diesem Ruf folgen, solange werde ich selber auch den Mut haben zu sagen: Ja, ich bin Christ, denn ich finde Gutes in den Erzählungen und dem Handeln meiner Religion. Und ich möchte helfen, dieses Gute zu multiplizieren und für den christlichen Glauben zu erhalten. Solange Gott bei den Christen ist, und sich nicht aufgrund deren Wohlstandsevangeliums, deren Selbstgerechtigkeit und deren Ignoranz von ihnen abwendet, solange lohnt es sich auch für mich, um die guten Erzählungen unserer christlichen Kultur zu kämpfen und sie nicht denen zu überlassen, die sie missbrauchen für ihre Zwecke.