Thomas J. Oord: Gottes Wille und das Corona Virus
Einer der Theologen, die mich in den letzten Jahren am meisten geprägt haben, ist Thomas Jay Oord. Im Sommer sollen zwei seiner Bücher auch auf Deutsch erscheinen. Es lohnt sich, Thomas auch bei Facebook zu folgen und mit ihm so persönlich in Austausch zu treten. Vor ein paar Tagen hat er dort einen Artikel veröffentlicht, der sich theologisch mit dem Coronavirus beschäftigt. Seine theologische Perspektive ist stark geprägt von Offenen und Relationalen Theologien, zu denen auch die Prozesstheologie zählt (mit der ich sehr viel anfangen kann). Der Artikel wurde von Michael Jung übersetzt. Den englischen Artikel findet ihr hier. Eine pdf-Version der Übersetzung hier.
Gottes Wille und das Coronavirus
Ich bin nicht überrascht, dass einige Leute Gott beschuldigen, vielleicht genauer: es Gott anrechnen.
Ich lese Social Media Beiträge, die sagen: Das Coronavirus (Covid 19) ist Gottes Wille. Unsere derzeitige Not ist Teil eines vorherbestimmten göttlichen Plans.
Ein Beitrag drückt es so aus:
„Sorry, wenn ich die große Panik unterbreche, aber das Coronavirus wird niemanden aus dieser Welt nehmen, wenn es nicht der Plan des guten HERRN ist. Und du wirst das nicht ändern, egal was du tust oder was du kaufst.“
Wenn diese Sichtweise wahr ist, dann gibt es keinen Grund sich zu beunruhigen. Keine Notwendigkeit sich vorzubereiten, zu verteidigen, zu schützen, aufzuopfern oder irgendetwas zu tun. Es ist ja alles im „Plan des guten HERRN“.
Nicht Gottes Plan!
Ich glaube nicht, dass das Coronavirus Gottes Plan ist. Gott verursacht keine Pandemie, die einige Menschen tötet, viele unglücklich macht und weitreichende nachteilige Auswirkungen auf die Gesellschaft hat.
Gott hat dieses Übel nicht verursacht!
Diejenigen die sagen „Gott hat alles unter Kontrolle“ behaupten oft, dass alles was geschieht, Gutes oder Böses, Teil eines Masterplans sei. Jede Folter, jeder Mord, jede Vergewaltigung, jede Krankheit, jeder Krieg und vieles mehr seien Teil eines göttlichen Entwurfs.
Die Vergewaltigung deiner Schwester? Gottes Plan. Die Fehlgeburt, die du erlitten hast? Gottes Plan. Jeder skrupellose Diktator oder jedes faschistische System? Gottes Plan. Krebs, Betäubungsmittel- Abhängigkeit, Leukämie, schwere Gebrechen und so weiter? Gottes Plan.
Das Coronavirus? Gottes Plan.
Das kaufe ich niemandem ab. Ich kann nicht glauben, dass ein liebender Gott so eine Art von Plan entwerfen würde! Wenn Gottes Liebe so ist, dann will ich nichts mit Gott zu tun haben!
Lässt Gott das Virus zu?
Erfreulicherweise verwirft heutzutage eine große Anzahl von Leuten die Idee, Gott würde die aktuelle Pandemie verursachen. Bedauerlicherweise glauben viele, Gott würde sie zulassen oder erlauben.
Macht das Sinn?
Diejenigen die sagen „Gott lässt Übel zu“ setzen voraus, dass Gott es eigenhändig (!) beenden könnte. Wenn Gott wollte, könnte er diese Pandemie mit einer einzigen Macht-Handlung beenden. Aus irgendeinem Grund, sagen diese Leute, lässt Gott Tod, Krankheit und weiteres Leid zu.
Angenommen eines meiner Kinder würde beginnen eines meiner anderen Kinder zu würgen. Angenommen ich könnte einschreiten und diese Gewalttat stoppen. Aber angenommen ich ließe es zu – und den Tod meines Kindes – und würde dann sagen: „Ich habe diese Tötung nicht verursacht, also beschuldige nicht mich!“.
Niemand würde mich als liebenden Vater betrachten, wenn ich das Übel nicht verhindert hätte, das ich hätte verhindern können.
Diejenigen die sagen, dass Gott das Coronavirus zulässt machen einen großen Fehler. Sie unterhöhlen unseren Glauben an einen vollkommen liebenden Gott. Gerade wie ein liebender Vater seinen Kindern nicht erlauben würde einander zu würgen, so würde ein liebender Gott nicht einem Virus erlauben großflächig Tod und Zerstörung anzurichten.
Es mach keinen Sinn zu sagen: „Es ist nicht Gottes Wille, aber er lässt es zu.“
„Sieh das Gute, das daraus kommt …“
Viele, die behaupten Gott verursache oder erlaube das Coronavirus, werden das Gute sehen wollen, das aus unserer gegenwärtigen Krise entsteht. Sie werden auf Geschichten von Selbsthingabe hinweisen oder auf die guten Auswirkungen zeigen, wenn Menschen in gutem Miteinander die Pandemie bekämpfen.
Beim Sehen auf das Gute, das aus der Pandemie entsteht, werden einige ein „Argument vom größeren Gut“ verwenden. „Wir haben etwas Wertvolles durch das Coronavirus gelernt!“ werden sie sagen. „Diese Pandemie lehrte uns, dass wir all die Sachen nicht brauchen, von denen wir dachten wir bräuchten sie.“ „Wir hatten einen Virus nötig um zu lernen herunterzukommen, langsamer zu werden und uns auf das zu konzentrieren was wirklich wichtig ist.“
Gute Dinge werden aus den Übeln hervorgehen, denen wir gerade ausgesetzt sind. Verlass dich drauf. Aber wir sollten nicht sagen, dass Gott Übel verursacht oder zulässt – für diese guten Zwecke. Sie sind nicht Teil irgendeines vorherbestimmten Plans.
Stattdessen sollten wir denken, dass Gott dem Übel einiges Gute abringt und daraus herauspresst – aus dem Übel, das er aber nicht zuvor geplant und gewollt hatte.
Gott gibt niemals auf – keinen Menschen und keine Situation. Er wirkt in einer gebrochenen und erkrankten Schöpfung. Gott wirkt so, dass er das Bestmögliche aus etwas herauswringt. Er ringt dem Verkehrtlaufenden so viel Gutes ab wie nur irgend möglich. Aber er verursacht oder erlaubt das Übel nicht.
Es ist ein Geheimnis
Eine wachsende Anzahl von Leuten erkennt die theologischen Probleme, die aus der Anschauung folgen, dass Gott das Coronavirus verursacht oder zugelassen hat. Anstatt eine bessere Weise des Redens von Gottes Handeln anzubieten berufen sie sich aber auf ein „Geheimnis“.
„Wir wissen nicht, warum Gott auf diese Weise handelt“, sagen sie. Noch komplexere Denker sagen, Gott „handelt“ nicht auf eine Weise, die wir verstehen können [Erläuterung MJ: „Handeln“, mit den Händen etwas tun, sei eine menschliche Kategorie, die nicht so einfach auf Gott übertragen werden dürfe.] . Was es bedeutet zu sagen „Gott handelt“ sei ein absolutes Geheimnis. Endliche Wesen können einen unendlichen Gott in keiner Weise verstehen, sagen sie.
Andere spielen die „Geheimnis“-Karte indem sie sagen, Gott sei unbeteiligt. Deisten [Erläuterung MJ: Von lateinisch „deus“ – Gott; eine im Zuge der Aufklärung entstandene und bis heute wirkende Denkweise, die Gott als eine Art Uhrmacher betrachten, der die Welt zwar erschaffen habt, aber nicht mehr eingreift. Sie funktioniert ja nach ihren eigenen Natur-Gesetzen …] sagen, Gott erschuf die Welt vor langer Zeit, aber nun übt er die „Hände-weg“-Methode.
Dieser Gott beobachtet die Welt mit ihren Leiden aus einem Abstand. Dieser Gott hat die Macht, Übel zu stoppen, aber er sitzt am Spielfeldrand und isst Popcorn.
Ich frage mich warum jemand an einen Gott glaubt, der ein absolutes Geheimnis ist. Wenn wir keine glaubwürdigen Antworten auf unsere tiefsten Kämpfe und unsere größten Ängste bekommen können – das Coronavirus eingeschlossen – warum sollen wir dann überhaupt an Gott glauben?
Wenn Gottes Wege nicht unsere Wege sind, dann ist kein Weg besser als ein anderer.
Ein besserer Weg
Es gibt einen besseren Weg über Gottes Willen und das Coronavirus zu denken.
Dieser Weg sagt: Gott will das Virus besiegen. Gott wünscht leidenschaftlich, die Tode und die Zerstörung abzuwenden, die wir aktuell sehen. Dieser Weg sagt: Gott liebt jeden Menschen und alle Dinge, vom allerkomplexesten zum allergeringsten. Und Gott betreibt immerzu den Kampf gegen das Coronavirus, auf allen Ebenen der Existenz und der Gesellschaft.
Dieser bessere Weg sagt: Gott kann das Coronavirus nicht eigenhändig (!) besiegen. Gott braucht unsere Hilfe und Mitwirkung. In dieser Zeit des Ringens benötigt Gott das Beste der Medizin, das Beste von gesellschaftlichen Führungskräften, das Beste von jedem von uns.
Ich nenne diese Sichtweise „die nicht-kontrollierende Liebe Gottes“, und ich habe akedemische und allgemeinverständliche Bücher geschrieben, die ihre Einzelheiten erläutern. (Leicht zu lesen ist mein meistgekauftes Buch „God Can‘t: How to Believe in God and Love after Tragedy, Abuse and Other Evils [Erläuterung MJ: Sehr empfehlenswert, leider bisher nur auf englisch erhältlich]). Diese Sichtweise sagt: Gottes Liebe ist ihrem Wesen nach nicht-kontrollierend. Und weil Gott jeden Menschen und jede Sache liebt, deshalb kann er niemanden und nichts kontrollieren.
Der nicht-kontrollierende Gott der Liebe ist die allerwirksamste Macht im Universum! Aber Liebe zwingt nicht den eigenen Weg auf (1 Kor 13,5), selbst der stärkste Liebhaber kann keine Kontrolle über andere ausüben.
Gottes Wille für uns
Was ist Gottes Wille? In gewissem Sinn ist es derselbe heute wie jeden Tag: Gott zu lieben, andere zu lieben, die ganze Schöpfung zu lieben, einschließlich uns selbst.
In unserer aktuellen Krise konkretisiert sich Gottes spezifischer Wille. Gott ruft und lockt jede Person, jede Familie, jede Gemeinschaft und jede politische Struktur zu spezifischen Reaktionen der Liebe. Diese spezifischen Berufungen entsprechen jeweils speziell dem, was jedes Geschöpf in je seiner Situation tun kann. Gott ruft und lockt und alle zu liebenden Taten im Licht desssen was jedem möglich ist.
Für die meisten von uns: soziales Abstandhalten kann eine bedeutsame Form von Liebe sein. Vorräte untereinander aufzuteilen – einschließlich Toilettenpapier – kann auch eine sein. Mit Mitarbeitern des Gesundheitswesen zu kooperieren, kann ein kraftvoller Ausdruck von Liebe sein. Vernünftige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, kann eine Tat der Liebe sein. Und so weiter …
Wir sind jederzeit herausgefordert zu lieben. Unsere momentane Krise stellt uns vor neue Herausforderungen zu entdecken, was die Liebe gerade jetzt erfordert. Ich verpflichte mich, mein Bestes zu tun, genau wahrzunehmen und dann auf Gottes Rufe zur Liebe zu antworten.
Ich hoffe, Sie machen mit. Gott tut es auch.
– Thomas Jay Oord
Hintergrundinformation:
Thomas Oord‘s Theologie hat Bezüge zu theologischen Denkrichtungen, die man „Open Theism“ und „Prozesstheologie“ nennt. Sie nehmen Impulse der Prozessphilosophie von Alfred North Whitehead (18612 – 1947) auf, der als Kenner der modernen Quantenphysik versuchte, eine „Lehre von allem“ (Metaphysik) zu formulieren, die einen erfahrungsnahen und für moderne Menschen „erschwinglichen“ Gottesbegriff hat.
Eine weitere interessante Vertreterin ist Catherine Keller. Ihr Buch „Über das Geheimnis“ ist auf deutsch übersetzt und kann dem Nachdenken erfrischende Impulse geben!
God Can‘t
In seinem allgemeinverständlichen Buch entfaltet Thomas Oord angefüllt mit vielen Erfahrungen von Menschen, die Überlebende oder Angehörige von Katastrophen, Unfällen, Krankheiten, Vergewaltigungen etc. eine 5-teilige Antwort auf die Frage nach Gott und dem Leid.
Kurz skizziert lautet sie so:
„God can’t prevent evil“
Gott kann Übel nicht verhindern
Er hat keinen physischen Leib, deshalb kann er nicht in Situationen eingreifen.„God feels our pain“
Gott fühlt unseren Schmerz
Gott ist mit allem in der Natur und jedem Lebewesen verbunden. Er nimmt wahr, was geschieht und fühlt mit uns mit.„God works to heal“
Gott arbeitet an der Heilung
Er hilft, dass Wunden verheilen, Versöhnung geschieht, Kraftlose wieder Kraft bekommen. Manche Krankheiten und Wunden können in diesem Leben nicht mehr heilen. Zu unserem Leben gehört Begrenzung, Krankheit und Tod. Wir hoffen auf vollkommene Heilung in Gottes neuer Welt.„God squeezes good from bad“
Gott ringt dem Bösen möglichst viel Gutes ab
Böses ist zu nichts gut. Es zerstört.
Aber in einem verbrannten Wald wachsen neue Bäume.
Nach Abschieden begegnen wir neuen Menschen.
„Die Gott lieben, denen müssen alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8).
„Es gibt nichts Böses, das nicht danach auch zu etwas Gutem führt“ (Sprichwort)„God needs our cooperation“
Gott braucht unsere Mitwirkung
Gott lockt zum Guten, schenkt neue Möglichkeiten, macht Lust auf gelingendes Leben und gute Beziehungen. Er wirkt durch Menschen und Mitgeschöpfe, die sich auf seine Güte und seine Gedanken einlassen. Auch durch Bibel und Gottesdienst werden wir motiviert, mit Jesu Geist der Versöhnung zu leben.
Es macht einen Unterschied, ob wir mit Gott mitwirken – oder gegen ihn.
Auf unser Tun kommt es an!
24. März 2020 @ 22:49
Jetzt zuerst einmal nur ganz kurz, mit diesen Ausführungen kann ich auch viel anfangen. Es ist ja auch in Remix podcasts nicht nur einmal diskutiert worden. Allmacht Gottes für mich ja, weil „Amor Vincit“, als Liebender ist Gott in tiefster Solidarität bei uns in seinem Sohn und lockt uns zu sich hin in seinem Geist, wir sind Teil des göttlichen Tanzes, eine Bewegung zur Einheit oneness in diversity, Einheit im Omega, Ziel der evolutionären Bewegung Gottes mit der Welt, Ziel Omega Christus Jesus. Und beten kann bewegen, weil wir uns an die stärkeren Strukturen der göttlichen Liebe im Gebet wenden, zugleich ist die Liebe nicht die Summe aller unserer menschlichen Liebesbemphungen, sondern es entsteht ein Mehrwert, der zugleich uns allen vorausgeht und zugleich Zielpunkt ist A und O Christus. Nur mal so bruchstückhaft, was ich persönlich glaube.
25. März 2020 @ 16:08
Da kann ich voll mitgehen. Gerade auch mit der Formulierung, dass Gottes Liebe nicht bloß die Summe menschlicher Bemühungen ist. Da kann ich sehr viel mit anfangen. Und ich frage mich, ob ich nicht doch einmal Richard Rohrs “Diven Dance” lesen sollte 😉
2. April 2020 @ 11:32
Sehr interessant. Rein logisch leuchtet mir das ein. Aber (und das ist für mich ein großes aber): Begegnet mir in der Bibel und besonders auch in den Evangelien nicht ein ganz andere Gott? Jesus heilt Menschen und lässt sogar Lazarus von Toten zurückkommen. Sicherlich ist dafür oft der Glaube eine Voraussetzung und dennoch scheint es, dass Gott sehr stark in seine Schöpfung eingreifen kann.
Da interessieren mich deine Gedanken: Wie bringst du das überein?
4. April 2020 @ 19:36
Hi Simon, danke für deinen Kommentar!
Ich denke, dass in der Bibel ganz unterschiedliche Bilder von Gott gezeichnet werden. Die kann man aus meiner Sicht auch nicht harmonisieren. Ja, es gibt Bilder von einem „eingreifenden“ Gott – beispielsweise in der Geschichte von Turmbau zu Babel. Es gibt aber auch Gottesbilder von einem Gott, der limitiert ist – beispielsweise als in Daniel 10:12 ein Gebet erhört wurde, dessen Verwirklichung aber aufgehalten wurde. Ich würde außerdem die Erfahrung stark machen: So, wie die biblischen Texte Gott und sein Wirken oft darstellen, ist die Welt ja nicht. Dem muss man denke ich Rechnung tragen. Was denkst du denn?