Brauchen wir einen modernen Jesus?
Brauchen wir einen modernen Jesus?
Mich beschäftigen immer wieder einige Aussagen von Yuval Harari. Er meint, dass die Religionen sich längst von einer kreativen zu einer reaktiven Kraft gewandelt haben. Sie sind mit Rückzugsgefechten beschäftigt.
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Unterm Strich würde ich sagen, er hat Recht.
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Einige versuchen laut Harari zwar, die religiösen Dogmen so weit umzudeuten, dass es irgendwie mit der modernen Welt vereinbar ist, im Grunde ist von der Religion aber nicht zu erwarten, dass sie dabei hilft, diese Welt in eine positive Richtung zu bewegen.
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Das wiederum sehe ich anders. Oder möchte es anders sehen: Religion kann wieder diese gestalterische Kraft entfachen.
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Mich erinnert das an den radikalen Theologen Thomas J.J. Altizer. Er geht nämlich in eine ähnliche Richtung. Statt Rückzugsgefechte zu führen, sollte Religion das „Wort des Glaubens“ verkündigen. Hört sich fromm an, ist aber eine radikale Idee.
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Denn für ihn ist das Wort in einer Vorwärtsbewegung. Es erneuert alle Dinge. Und das nicht, indem es alles in seinen ursprünglichen Zustand zurückruft, vielmehr ruft es in eine Zukunft, die schon in die Gegenwart ragt.
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Allerdings geht es nicht so einfach vorwärts. Denn etwas hindert, etwas liegt belastend auf der Geschichte. Etwas verneint das Diesseits und steht im Widerspruch zum Leben. Für Altizer ist das Gott!
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Die christlichen Dogmen, Traditionen und Kulte verhindern, dass der radikale Christ sich mit Jesus und seinem Wort völlig vereinen kann. Und deswegen müssen sie außer kraft gesetzt werden. Es bedarf einer grundlegenden Umkehr zum Wort des Glaubens — also zum Geschichtsprozess und zur Vorwärtsbewegung, zu einem pneumatischen Verstehen.
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Und das geht nur über die Verkündigung der frohen Botschaft: Gott ist tot.
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Klar, Altizer ist sehr provokativ. Aber was ist sein Punkt? Ihm geht es um eine Richtungsänderung in der Theologie. Weg von absoluten Wahrheiten, weg von einem rückwärtsgewandten Glauben, der das entscheidende in der Vergangenheit sucht. Weg vom Versuch, das vergangene wiederzuholen. Stattdessen die Einsicht, dass das Wort sich immer neu ereignet. Die Bewegung des Glaubens ist vorwärtslaufend.
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Und um diese Vorwärtsbewegung mitmachen zu können, muss man vergangene Glaubensformen radikal hinter sich lassen. Und das ist theologisch im Kreuz angelegt, denn hier macht Gott diesen Move selber vor: Selbstverneinung und Selbstveränderung. Erst dann entsteht etwas Neues: Die progressive Dämmerung des Wortes bzw. Geistes im profanen Gang unserer Geschichte.
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Wie kann Glaube nun eine gestalterische Kraft sein? Braucht es ein radikales Loslassen von vergangenen Glaubensformen? Oder braucht es ein neues Entdecken der Glaubensformen? Oder ein neues Interpretieren?